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Fan-Vertreter zur WM: "Leute wie Hoeneß sind in ihrem Hamsterrad gefangen"


Wirbel um Katar
"Die WM ist der Tiefpunkt"

  • Noah Platschko
InterviewVon Noah Platschko

Aktualisiert am 14.11.2022Lesedauer: 8 Min.
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Zwei Männer in traditioneller katarischer Kleidung in einem Stadion.Vergrößern des Bildes
Zwei Männer in traditioneller katarischer Kleidung in einem Stadion. (Quelle: Anke Waelischmiller/SVEN SIMON via www.imago-images.de)

Dario Minden gehört zu den härtesten Kritikern der Katar-WM – und attackiert im t-online-Interview die Verantwortlichen des Turniers aufs Schärfste.

Sein Auftritt ging um die Welt. Als sich Dario Minden Ende September beim DFB-Menschenrechtskongress dem katarischen Botschafter zuwandte, wählte er klare Worte:

"Ich bin ein Mann und ich liebe Männer. Ich habe Sex mit anderen Männern. Das ist normal. Gewöhnen Sie sich daran oder verschwinden Sie aus dem Fußball", sagte der stellvertretende Vorsitzende der Fan-Dachorganisation "Unsere Kurve" in englischer Sprache.

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Menschen aus aller Welt teilten den Ausschnitt, in dem der Frankfurt-Fan mit einer Deutlichkeit die Einhaltung von Menschenrechten forderte, die Verbände und Vereinigungen allzu oft vermissen lassen.

Gut eine Woche vor dem WM-Start spricht t-online mit dem Mann, der an der Spitze des Fußballs diejenigen sieht, die bekämpft werden müssen – und er sagt: "Diese WM ist der Tiefpunkt der Gesamtentwicklung des Fußballs."

t-online: Herr Minden, in wenigen Tagen startet die Fußball-WM in Katar. "Fußball ist für alle da", sagten Sie in Ihrer Rede beim Menschenrechtskongress des DFB Ende September. Wird Fußball in Katar für alle da sein?

Dario Minden: Für die Menschen, die auf Katars Baustellen gestorben sind, wird er schon mal nicht mehr da sein. Das ist nicht der Fußball für alle, das ist der Fußball einer komplett abgehobenen Blase an der Spitze des Weltfußballs. Man kann Gianni Infantinos Worte von der "allerbesten WM aller Zeiten" durchaus ernst nehmen: Für die Hand voll Fifa-Bonzen, die im Luxusrausch diese Turniere begleiten, kann es schon das allerbeste Turnier aller Zeiten werden. Aber Fußball für alle ist das niemals. Das ist nicht der Fußball als soziales Gut, wie wir ihn uns vorstellen.

Bei Ihrer Rede sprachen Sie den katarischen Botschafter Abdulla Bin Mohammed bin Saud Al-Thani direkt an – und redeten offen über Ihre Sexualität. Wie war der Austausch mit ihm nach der Veranstaltung?

Es war eine besondere Situation für ihn, da er nicht eingreifen konnte, als er frontal von der Bühne herab angesprochen wurde. Er hatte davor schon seine Grußworte gesprochen und keine Möglichkeit, vor Kameras noch mal das Wort zu ergreifen. Mir gegenüber war er höflich und gelassen und hat später noch mal das Gespräch gesucht. Die Talking Points waren dann aber nichts Neues für meine Ohren.

Sie waren beim DFB-Kongress als Vertreter der Fan-Organisation "Unsere Kurve" da. Mit welchem Ziel sind Sie dort hingegangen?

So eine Anfrage ist immer schwierig, man will auf keinen Fall als Feigenblatt enden, dass also ein Verband nichts Handfestes macht, aber sagen kann: "Seht her, wir hatten doch einen ganz tollen Diskurs." Aber es sollte ja auch kein Kaffeeklatsch zwischen mir und dem Botschafter sein. Es war schon eine gute Sache, die Gelegenheit gehabt zu haben, die eine oder andere Wahrheit zu benennen. Das ging auch in Richtung Fifa und DFB. Ich denke, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen.

Gibt es Projekte bezogen auf die WM, die "Unsere Kurve" versucht umzusetzen?

Für uns als Vereinigung steht der Vereinsfußball im Fokus. Diese WM ist aber der Tiefpunkt der Gesamtentwicklung des Fußballs. Deswegen ist sie auch für uns ein relevantes Thema. Wenn du als Fan vor Ort bist, bemerkst du nicht, ob 1.000, 5.000 der 15.000 Menschen in den Hitzetod getrieben wurden. Wenn man das ausblendet, kann das Turnier sicherlich eine ganz tolle "Customer Experience" werden.

Katar wird aus vielerlei Gründen scharf kritisiert. Hat sich in Katar denn auch etwas zum Positiven entwickelt?

Etwa im Arbeitsrecht gab es schon signifikante Verbesserungen, leider wohl nur auf dem Papier. Was die Situation der Queer-Community angeht, beruft sich Katar gerne darauf, dass die Todesstrafe nicht mehr angewendet werde. Das stimmt auch, es gibt in Katar keine Prozesse mit dem Ergebnis Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Liebe. Aber es gibt trotzdem Haftstrafen. Es gibt unabhängige Berichterstattung, die aufzeigt, wie untragbar, desolat und menschenfeindlich die Situation für die LGBTQ-Community vor Ort ist. Deswegen reicht es nicht, dass technisch gesehen keine Todesstrafen mehr vollzogen werden.

Kennen Sie viele Leute, die nach Katar zur WM fliegen werden?

Im Freundeskreis nicht. Aber ich kenne Leute, die dahinfahren, weil sie zu jeder WM gehen, weil das einfach deren Ding ist. Sollen sie auch machen, ich sehe die Entscheidung des Einzelnen nicht als das große Problem. Die an der Spitze sind diejenigen, die bekämpft werden müssen. Deswegen will ich jetzt auch nicht Fans verteufeln, die nach Katar fliegen, um sich Fußball anzuschauen.

Dort wird dann auch die Nationalmannschaft spielen. Das Thema Boykott wurde vom DFB nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Wenige Wochen vor Turnierstart hieß es von verschiedenen Seiten, "wenn, dann hätte man das früher machen sollen".

Und es ist einfach ein sehr großes Versäumnis, dass man den Boykott nie ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Es sollte klar sein, dass die Situation in Katar nicht erst seit gestern fatal schlecht ist. Es gibt ausführliche Berichte von NGOs von 2006, die glasklar die fatale Lage im katarischen Arbeitsmarkt aufgezeigt haben. Das heißt: Wer sich 2010 dafür entschieden hat, diesem kleinen Land ohne Auflagen so ein Mammutprojekt zu geben, der hat sich sehenden Auges für Tausende Tote entschieden.

Was hätte Ihrer Meinung nach damals passieren müssen?

Man hätte damals schon über Boykott reden müssen. Man hätte gar nicht den Fußball zum Ausverkauf stellen dürfen. Aber selbst, wenn man sagt: "Okay, wir sind halt käuflich", selbst dann hätte die Fifa Katar mit Auflagen belegen müssen, die die Sicherheit der Gastarbeiter garantiert. Vielleicht hätte das Turnier dann ein paar Milliarden mehr gekostet, aber das ist halt der Preis. Dann wäre es in meinen Augen immer noch ein Scheiß-Turnier, aber dann wäre es nicht das Verbrechen, was es ist. Sich jetzt hinzustellen und zu sagen, der Zug ist abgefahren, ist zynisch. Natürlich hätte man vor zehn Jahren etwas sagen müssen, aber das entbindet ja nicht davon, heute weiter Kritik zu üben.

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Hätten Sie sich mehr Rückgrat vom DFB gewünscht?

Es gibt kaum einen nationalen Verband, der so ein Gewicht hat, wie der Deutsche Fußball-Bund. Man versteckt sich als "kleines Deutschland", dabei ist Deutschland eine sehr große, einflussreiche Industrienation. "Wir allein können ja nichts machen", heißt es. Beim Kongress in Doha Anfang März war dann Lise Klaveness vom norwegischen Fußballverband die Einzige, die aufgestanden ist und Tacheles geredet hat. Der DFB hat – wie all die Jahre zuvor – geschwiegen.

Im Interview mit "11Freunde" sprachen Sie davon, ein zaghaftes, aber ehrliches Bemühen zum Aufräumen und zur Besserung beim DFB zu erkennen. Wie hat sich der Austausch mit dem Verband unter dem neuen Präsidenten verändert?

Ich erwarte nicht viel. Der DFB ist sehr belastet von der Vergangenheit, er ist strukturell ein schwerfälliger, intransparenter Verband. Ich sehe aber schon, gerade in der zweiten Reihe, mehr progressive Kräfte, die den Fußball-Bund nach vorne ausrichten wollen. Das will ich dem Verband schon attestieren. Die Leute, die jetzt am Werk sind, sind ein anderes Kaliber als die menschlichen Vollkatastrophen davor. Ob es reicht, um nachhaltig was zu verändern, wird sich zeigen.

Sind Sie eigentlich auch mit internationalen Fangruppierungen im Austausch? Sprich: Gibt es auch Länder, in denen deutlich positiver über die WM gesprochen wird?

Ich bin sicherlich kein Experte, aber die Ticketverkäufe in Deutschland sind ja wirklich mau, während Südamerika, wie schon bei der WM in Russland, die üblich hohen Absatzzahlen hat. Aber auch innerhalb Europas gibt es frappierende Unterschiede. Wenn ich mir überlege, dass es jüngst in Newcastle ein Banner gab, das den Jahrestag des saudischen Einstiegs abgefeiert hat – das wäre in Deutschland undenkbar.

Was für eine TV-Berichterstattung erwarten Sie während des Turniers in Deutschland?

Machen wir uns nichts vor. Ich erwarte eine unangenehme, gespielt glücklich-tolle WM-Show. Die Rechteinhaber haben das Turnier für sehr viel Geld erworben, ein beträchtlicher Teil der Summe kommt wieder durch Werbung rein. Mit Blick auf die Werbepartner kannst du nicht in jedem zweiten Satz erwähnen, dass man guten Gewissens diesen Mist eigentlich nur abschalten kann. Es wird packende Spiele und tolle Tore geben, weswegen ich ein unkritisches Abfeiern erwarte. Der kritische Bericht über die moderne Sklaverei läuft dann kurz vor Mitternacht.

In Deutschland ist es Winter, mehr Leute werden zu Hause in ihrer Wohnung sein als im Sommer. Was für Quoten erwarten Sie?

Ich denke schon, dass wir einen Unterschied zu vergangenen Turnieren merken werden. Am Ende ist es aber auch nicht so wichtig. Wie vorher schon angesprochen: Private Konsumentscheidungen ändern praktisch nichts an den Missständen. Wenn den Leuten im Dezember kalt ist, ist es doch müßig, ob sie sich Netflix anmachen oder die WM. Ich werde keine Minute schauen und freue mich über alle, die es genauso halten, aber ich fände es verkehrt, den Leuten eine Moralpredigt zu halten, weil sie die Spiele schauen.

Wie sich das Land während des Turniers gibt, ist das eine, wie nachhaltig es für Veränderungen sorgt, das andere. Glauben Sie an eine nachhaltige Wirkung, beispielsweise beim Thema Rechte der LGBTQ-Community?

Rational gesehen glaube ich an gar nichts. Wir können uns in Deutschland kaum ein Bild davon machen, wie übel und aussichtslos die Situation für die Community dort ist. Eigentlich gibt es nur den Ausweg Asyl – oder eben weitere Todesangst. Was Asyl angeht, versagen auch wir als europäische Gemeinschaft kolossal. Es ist naiv zu glauben, so ein Turnier würde nachhaltig Grundlegendes ändern.

Wodurch zeigt sich dieses "kolossale Versagen"?

Das ist jetzt weiter gefasst als nur die WM. Aber wir lassen Tausende Menschen an europäischen Außengrenzen sterben. Nach meiner Rede beim DFB-Kongress schrieben mir Menschen aus aller Welt. Es war ein homosexueller Syrer dabei, der wurde in seinem jungen Leben sowohl vom IS als auch von russischen Truppen festgenommen und gefoltert – wegen seiner Sexualität. Der hat mir berichtet, dass Verwandte von ihm in Deutschland leben. Die sind aber in die Todesboote gestiegen. Er sagt, er steigt in kein Todesboot, er weiß aber auch nicht, wie lange er noch in Syrien überlebt. Menschen, die einen offensichtlichen Asylgrund haben, müssen wir doch sicher ins Land bringen können. Aber es scheint politisch nicht gewollt.

Wie steht es um das Presse- und Arbeitsrecht in Katar?

Da war zumindest auf der Seite der Katarer etwas Bewegung zu sehen. Beziehungsweise ergeht es Medienschaffenden rund um dortige Sportereignisse besser als in Russland oder China. Die Arbeitsrechtsreformen, die auf dem Papier erfolgt sind, stellen sich schon so dar, dass es für moderne Sklavenhändler zumindest etwas schwieriger wurde, ihr menschenunwürdiges, repressives System weiterzubetreiben.

Hierzulande fällt oft der Terminus "Wandel durch Handel" …

Die meisten Leute, die das ständig propagieren, tun nichts dafür, dass sich auch nur irgendetwas verbessert. Das ist dann bloß eine Bullshit-Propaganda-Lüge. Aber sehen wir es mal so: Es ist Teil der geopolitischen Strategie der Katarer, starke Partnerschaften mit europäischen Ländern aufzubauen. Reiner Fatalismus hilft ja auch nichts, die Herangehensweise muss sein: Wer eine Partnerschaft aufbauen will, muss auch – beispielsweise – Zugeständnisse in Richtung der LGBTQ-Community machen. Der Philosoph Antonio Gramsci hat es gut auf den Punkt gebracht, es braucht Pessimismus des Verstandes, aber Optimismus des Willens.

Wie sehr ärgern Sie Aussagen von Bayern-Präsident Uli Hoeneß, der im Doppelpass anruft und die WM verteidigt?

Es ist schon eine besondere Shit-Show, die rund um die Spitze unseres geliebten Fußballsports läuft. Ich glaube zwar nicht, dass Uli Hoeneß dazu fähig ist, aber einmal in sich gehen und sich das Ganze von außen anzuschauen, wäre ratsam. Ja, wir kennen die tatsächlichen Todeszahlen nicht, aber es sind etliche Menschen beim Bau von Stadien und Infrastruktur ums Leben gekommen. Leute wie Hoeneß sind in ihrem Hamsterrad gefangen und der festen Überzeugung, dass, egal wo der Planet brennt, ihre Art zu handeln und zu wirtschaften die richtige ist. Der Zug bei ihm scheint abgefahren.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Dario Minden
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